
Wien. Der Österreichische Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) hat seinen Wahrnehmungsbericht für 2010 veröffentlicht. Darin werden Mängel und Fehlentwicklungen in Rechtspflege und Verwaltung aus Sicht der Rechtsanwaltskammer aufgezeigt.
Im Gegensatz zu den letzten Jahren gehen die Wahrnehmungen des diesjährigen Berichtes über die Fehlleistungen Einzelner hinaus, heißt es: „Die Beobachtungen ergeben ein Bild von systematischer Überforderung in vielen Bereichen der Justiz.“
Alle Wahrnehmungen des Berichtes beruhen auf Beobachtungen und Berichten einzelner Rechtsanwälte, betont der ÖRAK in einer Aussendung. Ziel des schon traditionellen Berichtes sei es, Strukturen wie auch Ausformungen des Rechtsstaates zu beobachten, zu beurteilen und, wenn nötig, deren Verbesserung einzufordern.
Der diesmal festgestellte Umstand einer generellen Überlastung des Justizapparats manifestiert sich laut ÖRAK-Wahrnehmungsbericht:
- in zahlreichen Fällen unnotwendig langer Verfahrensdauer,
- Ausfällen Einzelner die in manchen Bereichen zu einem regelrechten Stillstand der Rechtspflege führen,
- unzumutbaren Wartezeiten durch häufige Richterwechsel
- monatelange Nichtnachbesetzung dringend erforderlicher Richterstellen,
- unbesetzten und damit faktisch aufgelösten Gerichtsabteilungen,
- Gesprächsverweigerung durch Staatsanwälte
- Gerichten, die trotz ausgeschriebener Verhandlungstermine versperrt sind
„Aus diesem Grund ist es unsere Verpflichtung, auf die mangelnde Aussteuerung dieser Probleme durch die Politik hinzuweisen“, so ÖRAK-Präsident Gerhard Benn-Ibler.
Der im aktuellen Budgetbegleitgesetz eingeschlagene Weg der Justiz, das Missverhältnis von Arbeit und Kapazität durch ein Einschränken der Arbeit und damit des Leistungsangebotes für den Bürger zu beheben, sei dem Rechtsstaat und seinen Bürgern nicht zumutbar.
Justiz als Melkkuh
In allen europäischen Ländern ist es selbstverständlich, dass der Staat der Justiz ausreichend Mittel zur Verfügung stellt, nur in Österreich verhält es sich genau umgekehrt, so die Aussendung: Die österreichische Justiz hebt laut einer Studie des Europarates bereits deutlich über 100 Prozent (111%) ihres Finanzbedarfs selbst über Gebühren ein. Der europäische Durchschnitt dieser Gebühren/Kosten-Relation liegt jedoch bei 26 Prozent, der Median bei 20 Prozent. „Österreich benutzt die Justiz zum Befüllen leerer Staatskassen – ein europäisches Unikat“, so Benn-Ibler.
Und das Missverhältnis verschärfe sich weiterhin, warnt der ÖRAK-Präsident. „Es werden zunehmend rechtsstaatliche Einrichtungen und Elemente zurückgedrängt oder eingeschränkt, so dass eine schrittweise Rückentwicklung zu beobachten ist. Eine solche Entwicklung ist aufzuzeigen, öffentlich zu machen und es haben gerade die Rechtsanwälte, als die unabhängigen und nur ihren Klienten verpflichteten Wahrer des Rechtes des Bürgers die Pflicht, ihre warnende Stimme zu erheben.“
Benn-Ibler kritisiert auch, dass das Gesetzgebungsverfahren „immer mehr zur leeren Form“ werde: „Begutachtungsverfahren sind, wenn sie überhaupt stattfinden, regelmäßig zu kurz, um die Gesetzesvorschläge einer umfassenden und verantwortungsgemäßen Begutachtung zu unterziehen. Zu den Budgetbegleitgesetzen 2010 standen knappe drei Wochen zur Verfügung, obwohl nicht nur Steuergesetze, sondern auch eine Vielzahl anderer Gesetze, von denen man sich Budgetwirksamkeit verspricht, zur Änderung vorgeschlagen wurden.“
Immerhin zeichne sich bei einigen der besonders strittigen Punkte (Fristverkürzungen, Zugang des Bürgers zum Gericht) ein Einlenken ab, lobt die Rechtsanwaltskammer. Freilich gelten viele ihrer Hauptkritikpunkte weiterhin, heißt es: So werde etwa die Qualität von Übersetzungsleistungen reduziert, obwohl die EU-Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen im Strafverfahren genau das Gegenteil, nämlich einen Ausbau des Rechts auf Übersetzung vorsehe. Benn-Ibler: „Wehret den Anfängen, denn auch der Rechtsstaat braucht Hygiene, geht sie verloren, beginnt er zu kränkeln. Es ist Gefahr in Verzug.“