Interview. Valerie Höllinger ist die neue CEO von Austrian Standards – einem Unternehmen, dessen Geschäft Standards und Normen sind. Im Interview spricht sie über Normen als Wettbewerbsfaktor für Unternehmen und ihre Pläne für eine 102 Jahre alte Institution.
Extrajournal.Net: Was bedeuten Normen in der Praxis, welche Bedeutung haben Standards für den Alltag der Österreicher?
Valerie Höllinger: Unser Alltag ist von Standards geprägt, 9 Millionen Österreicher kommen täglich damit in Kontakt. Das beginnt schon vor dem Aufstehen: Standards bestimmen die Standfestigkeit des Bettrahmens. Wenn wir das Licht einschalten, finden wir den Lichtschalter auf standardisierten 105 cm Höhe. Es gibt Vorgaben für Zahnbürste und Zahnpasta ebenso wie für den Toaster und Kaffee, die Stufen auf dem Weg zur U-Bahn oder das Netz, mit dem unser Handy sich verbindet. Im Büro angekommen, verwenden wir standardisiertes A4-Papier, wir arbeiten in Hochhäusern mit standardisierten Anforderungen und reisen in ebensolchen Flugzeugen. Dabei steht immer Sicherheit und Qualität im Mittelpunkt, neue Standards sind immer ganz vorne bei der Entwicklung dabei. Ein aktuelles Thema ist derzeit etwa die weitere Standardisierung von IT-Schnittstellen. Auch Quantencomputer werden wir möglichst bald standardisieren müssen. Kurz gefasst: Standards definieren Anforderungen an Produkte und Prozesse mit dem Ziel, für Sicherheit zu sorgen und zu definieren was Qualität bedeutet. „How good looks like“, nennen es unsere internationalen Kollegen.
Welche Vorteile hat die Wirtschaft konkret?
Valerie Höllinger: Was bewegt Unternehmen dazu, sich erstens bei der Entwicklung von Standards einzubringen und zweitens sie selbst zu nutzen? Standards fördern Innovationen. Sie sind im Gegensatz zu einem weitverbreiteten Vorurteil nicht teuer und bürokratisch, sondern innovativ: Es geht bei der Schaffung neuer Standards immer um Themen der Zukunft. Standards sind Produkttreiber und sparen Entwicklungszeit, weil die Unternehmen sich die Arbeit der Gremien zunutze machen können. Wenn Sie die geltenden Standards nicht kennen, besteht die Gefahr, dass Sie das Gleiche erneut entwickeln. Wenn Sie hingegen die Standards kennen und wissen, wo die Branche und die Kunden stehen, werden Sie am richtigen Punkt beginnen. Sie verhindern sozusagen das „Stehenbleiben“ im Tal des Todes, weil Standards schnell klarmachen, was „state of the art“ ist – wo ein Produkt anschlussfähig sein muss.
Wie kommen neue Standards zustande?
Valerie Höllinger: Es ist ein offener Prozess mit einem Multi-Stakeholder-Ansatz. Wenn Experten der Meinung sind, dass ein neuer Standard nötig ist, dann können sie einen Antrag auf Standardisierung stellen. Der wird dann von uns geprüft und an Fachleute aus dem Bereich weitergeleitet. Findet sich dafür eine Mehrheit, wird ein Komitee gegründet. Darin wird der neue Standard erarbeitet, was typischerweise etwa zweieinhalb Jahre dauert. Warum so lange? Weil das Bemühen immer ist, einen möglichst breiten Konsens aller Betroffenen zu finden. Standards sind keine Gesetze, ihre Anwendung beruht auf Freiwilligkeit. Austrian Standards selbst initiiert keine neuen Standards, sondern wir sind ein Dienstleister, der die entsprechenden Gruppen betreut und koordiniert. Dazu arbeiten wir in Österreich mit etwa 4.450 Expertinnen und Experten zusammen, die aus rund 2.300 Unternehmen und Organisationen kommen. Außerdem sind wir auf der internationalen Ebene mit 167 Ländern vernetzt. Die europäische Dachorganisation ist das CEN, weltweit die ISO.
Österreich ist international sehr aktiv, rund 1.000 unserer Experten sind auch auf europäischer Ebene aktiv, 600 weltweit. Auch auf europäischer und internationaler Ebene gibt es die Gremien und Komitees, in denen abgestimmt wird, ob ein neuer Standard notwendig ist. Wenn es allerdings bereits ein Komitee für ein bestimmtes Thema gibt, dann können die Österreicher dort ihr Anliegen einbringen und wir als Austrian Standards sind dabei behilflich.
Bei Green Tech wird jetzt definiert, was sauber eigentlich bedeutet
In den meisten Fällen wird es wohl schon ein Komitee für so gut wie jedes Thema geben, jedenfalls in den großen Branchen?
Valerie Höllinger: Das trifft für viele Bereiche zu, es sind ja allein in Österreich derzeit rund 22.500 verschiedene Standards im Einsatz. Aber oft auch nicht, denn es geht eben immer um die zukünftige Entwicklung. Ganz neue Standards entstehen derzeit zum Beispiel im Bereich Green Tech oder Robotics. Da geht es etwa um die Frage, was „sauber“ konkret bedeutet. Ein anderes wichtiges Gebiet ist die Normierung von Ladestationen und ähnlichem, wo die EU eine Reihe von Normierungen in Auftrag gegeben hat.
Das ist ein bekanntes Streitthema: Die EU will ein einheitliches Ladekabel bei Handys, allerdings wehrte sich Apple jahrelang dagegen.
Valerie Höllinger: Das ist ein Beispiel dafür, dass Standards uns nicht auffallen – außer sie fehlen. Grundsätzlich gab es einen Standard für ein einheitliches Ladekabel bereits, doch dann hat ein Anbieter, Apple, mit seiner Marktmacht darauf beharrt, seinen eigenen Weg zu gehen. Das kann natürlich immer passieren. Im konkreten Fall wurde die EU als Gesetzgeber aktiv und regelt die Frage durch eine Richtlinie, weil Standards hier nicht ausgereicht haben. Aber solche Situationen sind selten.
Sie haben Ihre neue Aufgabe mit Anfang 2022 angetreten. Was soll sich bei Austrian Standards in nächster Zeit ändern?
Valerie Höllinger: Ich habe eine Organisation übernommen, die seit 102 Jahren besteht. Sie hat eine lange Geschichte und ein solides Fundament. Ich möchte sie aber noch stärker auf die Bedürfnisse unserer Kunden ausrichten. Wir müssen uns noch konsequenter in die innovativen Geschäftsprozesse der Unternehmen eingliedern. Gleichzeitig möchten wir offener für Experten sein und auch für mehr Diversität. Wir laden KMU – die über 50% unserer Expert*innen stellen – ebenso ein, sich in den Gremien zur Entstehung von Standards einzubringen wie Großunternehmen Forschungseinrichtungen, NGO und staatliche Organisationen. Und: Wir wollen auch jünger und weiblicher werden, das sind die Trends in Wirtschaft und Gesellschaft. Was den Wertschöpfungsprozess der Unternehmen betrifft, so wollen wir uns direkter einbringen und Partner für Lösungen sein. Wir entwickeln zum Beispiel derzeit maschinenlesbare Standards. Auch die Time-to-Market, also die Entwicklungszeit, soll durch schlankere und unbürokratische Prozesse sinken. Dabei ist allerdings zu beachten, dass unsere Geschäftsordnung eine wichtige Funktion hat: Sie vermittelt Vertrauen und Sicherheit. Dort ist nämlich klar geregelt, wer wann gehört wird, wie Reviews passieren usw. Das braucht seine Zeit. In der Corona-Pandemie haben wir aber gesehen, dass sich viele Dinge beschleunigen lassen, zum Beispiel durch Einsatz von Onlinekonferenzen, von Co-Authoring-Tools. Da hat sich viel getan. Es ist auch Teil der EU-Strategie, generell mehr auf Standards und dabei auf mehr Tempo und mehr Innovation zu setzen.
„Europa setzt auf Bottom-up, nicht Top-Down wie in China“
Die EU-Kommission hat Standards zu einem wichtigen strategischen Ausbaugebiet erklärt, unter anderem wegen verstärkter Konkurrenz aus China. Warum besteht hier Handlungsbedarf?
Valerie Höllinger: Es geht darum, dass Standards große Wirkung auf der strategischen Ebene haben können. China geht ganz konsequent den Weg, sich immer stärker in die internationalen Gremien einzubringen, sei es im Cloud Computing, in der Mobilität und vielem mehr. China hat jedes Jahr 1.000 Absolventen von Normungs-Ausbildungen, die Anträge für ISO verfassen und sich in Schlüsselpositionen der Normungsarbeit engagieren. Mittlerweile hat China bereits den weltweit 3. Platz erreicht, was die Leitung von ISO-Komitees betrifft. Das Land setzt ganz gezielt auf die Schaffung von Standards, um seine geopolitischen Interessen zu vertreten.
Europa hat im Gegensatz zu China keinen Top-Down-, sondern großteils einen Bottom-up-Ansatz, was das Entstehen von Standards betrifft. Wir setzen auf breite Einbindung statt Hierarchien, müssen aber ebenfalls konsequenter sein, koordinierter vorgehen und unsere Ressourcen ausbauen. Das ist das Ziel der neuen EU-Vorgaben. Die Voraussetzungen dafür hat Europa: Es gibt europaweit 200.000 Experten. Austrian Standards will in dieser Entwicklung Zukunftstrends aufgreifen und als Think-Tank auftreten. Mein Anliegen ist, das Haus zu öffnen und serviceorientierter aufzutreten, auch auf den digitalen Schienen. Unsere Expertinnen und Experten sind dabei der Schatz, den es zu heben gilt.
Austrian Standards finanziert sich u.a über den Verkauf von Normen. Wenn ein KMU sich bei der Entstehung neuer Standards einbringen will – was muss es dafür tun und mit welchen Kosten ist zu rechnen?
Valerie Höllinger: Die Arbeit ist freiwillig, sie kostet Zeit, aber kein Geld, es gibt keine Teilnahmegebühren. Wer in einem Komitee mitmacht, kennt die Norm – im Gegensatz zu anderen Unternehmen, die dafür zahlen müssen. Dazu kommt das Know-how, das die Gremien haben und von dem alle Beteiligten profitieren. Es ist eine Aufgabe für Teamspieler, es entstehen Netzwerke zum gegenseitigen Nutzen. Man wird auch frühzeitig über neue Entwicklungen auf seinen Gebieten informiert. Der Zeitaufwand ist allerdings beträchtlich, gerade durch die internationale Ebene: Nur 7% aller Standards sind rein innerösterreichisch entstanden. Durch die vielen hybriden Sitzungen fällt allerdings jetzt ein großer Teil der Reisezeit weg.
Zwei der international derzeit meistverkauften Standards betreffen übrigens gerade kleinere Unternehmen, und zwar im Bereich der Cybersecurity. Hier geht der Trend nämlich dahin, dass die Cyber-Angriffe sich zunehmend gegen kleinere Unternehmen richten, weil die Großkonzerne und Ministerien immer stärkere Schutzmaßnahmen treffen. Damit sind immer mehr Unternehmen auch in Österreich betroffen, die oft noch nicht ausreichend vorbereitet sind. Die beiden Standards dienen dieser Vorbeugung, womit sich wieder zeigt, dass Standards bei der Entwicklung immer ganz vorne dabei sind.
Im Interview
Dr. Valerie Höllinger, MBA, MBL ist seit Jänner 2022 Managing Director von Austrian Standards. Mitglied der Geschäftsführung ist sie seit 2021.