Forever young. Seeanemonen können, im Gegensatz zum Menschen, fehlende oder beschädigte Nervenzellen zeitlebens wieder ersetzen. Forscher der Uni Wien haben dies unter die Lupe genommen.
Der genetische Fingerabdruck der Seeanemone Nematostella vectensis soll zeigen, dass die Vertreter dieses „evolutionär sehr alten Tierstammes“ die „gleichen Gen-Kaskaden für die Differenzierung von neuronalen Zelltypen benutzen wie komplexere Organismen und lebenslang für das Gleichgewicht aller Zellen im Organismus verantwortlich sind“. Diese Ergebnisse veröffentlichten Entwicklungsbiologen um Ulrich Technau von der Uni Wien in der wissenschaftlichen Publikation Cell Reports.
Fast alle tierischen Organismen bestehen laut den Forschern demnach aus Millionen von Zellen, die sich in komplexer Weise zu spezifischen Geweben und Organen wie dem Nervensystem gruppieren und aus unzähligen Zelltypen bestehen. Wie dieses Gleichgewicht von verschiedensten Zelltypen entsteht, wie es reguliert wird, und ob die unterschiedlichen Zelltypen verschiedener tierischer Organismen einen gemeinsamen Ursprung haben sei bislang nicht gut erforscht, so die Wissenschafter.
Neue Methode im Einsatz
Die Gruppe um den Entwicklungsbiologen Ulrich Technau, der auch Leiter der Forschungsplattform „Single Cell Regulation of Stem Cells“ (SinCeReSt) an der Uni Wien ist, habe nun die „Diversität und Entwicklung aller Nerven- und Drüsenzelltypen und ihrer Entwicklungsmechanismen in der der Seeanemone Nematostella vectensis“ entschlüsselt. Zur Anwendung kam dabei die Methode der „Single Cell Transcriptomics“, die in den letzten zehn Jahren die Biomedizin und Evolutionsbiologie laut Uni Wien revolutioniert habe.
„Dabei können ganze Organismen in Einzelzellen aufgelöst- und die Gesamtheit aller aktuell exprimierten Gene in jeder einzelnen Zelle entschlüsselt werden. Verschiedene Zelltypen unterscheiden sich merklich durch die exprimierten Gene. Deshalb kann durch Single Cell Transcriptomics der molekulare Fingerabdruck jeder einzelnen Zelle ermittelt werden“, so Julia Steger, Erstautorin der aktuellen Publikation.
Gemeinsame Vorläuferpopulation
In der Studie wurden Zellen mit einem „überlappenden Fingerabdruck“ gruppiert. Damit konnten die Wissenschafter definierte Zelltypen oder Übergangsstadien in der Entwicklung unterscheiden, die jeweils einzigartige Expressionskombinationen aufweisen. Das erlaubte den Forschern auch die gemeinsamen Vorläufer- und Stammzellpopulationen der verschiedenen Gewebetypen zu identifizieren.
Überraschenderweise fanden sie, dass entgegen früherer Annahmen Nervenzellen, Drüsen- und Nesselzellen aus einer gemeinsamen Vorläuferpopulation stammen, was durch genetische Markierungen in lebenden Tieren verifiziert wurde. Da auch bei Wirbeltieren einige Drüsenzellen mit neuronalen Funktionen bekannt sind, könnte dies laut den Forschern auf eine evolutionär „sehr alte Verwandtschaft“ von Drüsenzellen und Neuronen hinweisen.
Altbekanntes Gen im Dauereinsatz
Ein Gen spiele bei der Entwicklung dieser Zellen eine besondere Rolle. SoxC ist in allen Vorläuferzellen von Nerven-, Drüsen- und Nesselzellen exprimiert und essentiell für die Bildung all dieser Zelltypen, wie die Autoren in knockdown-Experimenten zeigen konnten.
„Interessanterweise ist dieses Gen kein Unbekannter: Es spielt auch beim Menschen und vielen anderen Tieren eine wichtige Rolle in der Bildung des Nervensystems, was zusammen mit anderen Daten zeigt, dass die wichtigsten regulatorischen Mechanismen der Nervenzelldifferenzierung über das gesamte Tierreich konserviert sind“, so Technau.
Die Forscher fanden zudem durch den Vergleich von verschiedenen Lebensstadien, dass die genetischen Abläufe der Nervenzellentwicklung vom Embryo bis zum adulten Organismus beibehalten werden und damit zum Gleichgewicht der Nervenzellen durch das ganze Leben von Nematostella vectensis beitragen.
Dies sei bemerkenswert, weil die Seeanemone im Gegensatz zum Menschen fehlende oder beschädigte Nervenzellen zeitlebens wieder ersetzen können. Für die zukünftige Forschung ergebe sich daraus die Frage, wie die Seeanemone es schafft, diese Mechanismen, die bei komplexeren Lebewesen nur im embryonalen Stadium vorkommen, in „kontrollierter Weise bis in den ausgewachsenen Organismus“ fortzusetzen.