Interview. Ulrike Timmer, Vorständin der ERGO Österreich für das Ressort Rechtsschutzversicherung, spricht über die neue Verbandsklage, Trends im Rechtsschutz, die Fusion mit D.A.S. und mehr.
Extrajournal.Net: Das wirtschaftliche und finanzielle Umfeld hat sich stark verändert, die Zinsen und die Inflation sind gegenüber früheren Jahren deutlich gestiegen. Ist auch ein Rechtsschutzversicherer davon tangiert?
Ulrike Timmer: Wir sind in vieler Hinsicht tangiert, allerdings anders, als es viele annehmen würden. Rechtsschutz ist antizyklisch, denn je mehr Unsicherheit und Sorgen sowohl Privatpersonen als auch Unternehmen belasten, desto mehr spürt man den Wunsch nach Absicherung. Daher nimmt typischerweise in solchen Zeiten die Nachfrage nach Rechtsschutz-Produkten zu. Sowohl das neue Segment Rechtsschutz der ERGO unter der Produktmarke D.A.S. Rechtsschutz als auch der Rechtsschutz-Markt allgemein sind 2023 deutlich gewachsen.
Gleichzeitig spüren wir die aktuell höhere Inflation bei den Schadenzahlungen, denn die Inflation lässt die Streitwerte steigen. Und wir spüren wie alle in der Branche die 20-prozentige Erhöhung der Rechtsanwaltsgebühren, die seit Mai 2023 greift.
Der Rechtsschutz-Markt wächst um rund acht Prozent
Wie stark ist der Rechtsschutz-Markt selbst zuletzt gewachsen?
Ulrike Timmer: Der Markt ist um ca. acht Prozent gewachsen. Es handelt sich beim Rechtsschutz-Markt in Österreich um einen reifen Markt mit gut 20 Anbietern. ERGO hat im Rechtsschutz gerade die Schwelle von 90 Millionen Euro Prämienvolumen überschritten, wir gehören damit nach wie vor zu den führenden Anbietern.
D.A.S. Rechtsschutz ist jetzt eine Produktmarke innerhalb von ERGO. Wie läuft die Umstellung?
Ulrike Timmer: Das bisherige D.A.S. Produktangebot mit seinen hohen Qualitätsstandards besteht unverändert weiter, so wie unser angestammtes Rechtsschutz-Team. Es gibt nun bei ERGO ein eigenes Vorstandsressort. Vor der Fusion von ERGO und D.A.S. in Österreich zeichnete ERGO keine Rechtsschutz-Risiken, dafür war allein das Unternehmen D.A.S. Rechtsschutz AG innerhalb des ERGO Konzerns zuständig.
Ich glaube, uns ist die Zusammenführung der beiden Unternehmen sehr gut gelungen. Natürlich bedeutet eine Fusion Veränderung und Anpassung für beide Seiten. Wir nützen die entstandenen Synergien und freuen uns über die Chancen, die sich, z.B. im Vertrieb, innerhalb der ERGO für das Rechtsschutz-Geschäft bieten. Organisatorisch ist das Segment Rechtsschutz im Rahmen des neuen Vorstandsressorts eigenständig aufgestellt. Das ist für die Schadenbearbeitung auch gesetzlich so vorgeschrieben, um Interessenskonflikte innerhalb des Kompositversicherers ERGO zu vermeiden.
Anfang 2025 werden die bisher in der Wiener Zieglergasse beheimateten Rechtsschutz-Bereiche vom alten Standort ins ERGO Center im 11. Wiener Bezirk umziehen. Das heißt, ab 2025 werden wir wirklich alle unter einem Dach sein und in einem neu umgebauten, hochmodernen Büroumfeld gemeinsam arbeiten. Schließlich steht auch noch die Migration der Rechtsschutz-IT-Systeme an.
„Rechtsberatung wird gerade in schwierigen Zeiten sehr nachgefragt“
Welche Produkte sind in den aktuell unsicheren Zeiten gefragt: Arbeitsrechtsschutz, Vertragsrechtsschutz?
Ulrike Timmer: Wir haben zwei große Kundengruppen: Privatkunden einerseits und Firmenkunden – oft kleine und kleinste Unternehmen – andererseits. Wir stellen fest, dass unsere Rechtsberatung, die wir auch mit unseren hauseigenen Juristen leisten, gerade in diesen schwierigeren Zeiten sehr nachgefragt wird. Wir haben derzeit insgesamt rund 40 Juristinnen und Juristen im Haus, die sich um die Schadenbearbeitung für unsere Versicherungsnehmer kümmern, und natürlich kommt unser Netz von mehr als 500 Partneranwälten dazu. Unser Inkasso-Rechtsschutz ist aktuell bei Firmenkunden besonders gefragt, mit dem Arbeitsgerichts-Rechtsschutz unterstützen wir unter anderem Privatpersonen.
Wir sehen, dass unsere unlimitierte Deckung im Privat-Rechtsschutz, die wir vor einigen Jahren eingeführt haben, unseren Kundinnen und Kunden die erforderliche Sicherheit gibt. Im Firmen-Rechtsschutz ist unseren Versicherungsnehmern die Produktlösung D.A.S. Streitwert PROTECT, die bei Überschreitung der vereinbarten Streitwertgrenze im Allgemeinen Vertrags-Rechtschutz eine aliquote Leistung bietet, wichtig. Auch der Familien- und Erb-Rechtsschutz gewinnt weiter an Bedeutung, denn die Babyboomer werden älter und es gibt mehr zu vererben.
Wird die geplante Verbandsklage ab 50 Geschädigten, die in Österreich vor der Einführung steht, Auswirkungen auf die Anzahl der Gerichtsverfahren haben?
Ulrike Timmer: Es wird Auswirkungen haben, sowohl auf die Zahl der Prozesse als auch auf die Zahl potenzieller Kläger. Speziell bei Massenschadenszenarien – Stichwort Dieselskandal – wird es in Zukunft eine Alternative zur Führung hunderter Einzelverfahren mit teilweise widersprüchlichen Ergebnissen geben. Alle Bereiche, in denen Konsumenten in gleichartiger Weise in großer Zahl betroffen sind, werden tangiert.
„Stärker gegenüber einem großen Gegner“
Wie sehen Sie als Rechtsschutzversicherer die Frage, ob Ihre Versicherten an solchen Massenklagen teilnehmen sollen?
Ulrike Timmer: Versicherungsnehmer gehen davon aus, gemeinsam im Rahmen einer Verbandsklage stärker gegenüber einem großen Gegner auftreten zu können. Wir stehen der Teilnahme an Verbandsklagen prinzipiell positiv gegenüber, weil bei guter Abwicklung in effizienter Weise komplexe Rechtsprobleme für eine große Zahl Betroffener gleichzeitig gelöst werden können. Für die Details müssen wir auf die Kundmachung des Gesetzes warten.
Werden Unternehmen in Österreich also künftig tendenziell mit mehr und teureren Klagen konfrontiert sein?
Ulrike Timmer: Diese Frage sehen wir uns gerade selbst intensiv an. Klar ist, dass die Unternehmen sich in ihrer Geschäftspraxis auf die leichtere Durchsetzung potenzieller Ansprüche Vieler vorbereiten müssen. Wir sehen jedenfalls, dass Rechtsschutz als Sparte weiterhin an Bedeutung gewinnt. Eine Sparte, die in ihrer Breite fast einzigartig ist, weil sie so gut wie alle Lebensbereiche abbildet. Es ist etwas ganz Besonderes, Menschen Zugang zum Recht zu verschaffen.
Im Interview
MMag. Ulrike Timmer ist Vorständin der ERGO Österreich für das Ressort Rechtsschutzversicherung.