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Recht

Wenn die „Trägerraketen“ starten: Grundlegender Wandel im Parlament

Parlament ©Parlamentsdirektion / Hertha Hurnaus

Österreich. Gesetzesbeschlüsse basierend auf Initiativen von Abgeordneten – oft sogenannte „Trägerraketen“ – überholten unter Schwarz-Grün erstmals jene der Regierung. Das ist problematisch, so ein Parlamentsbericht.

Die Regierung bringt einen Gesetzesvorschlag ein, der Nationalrat beschließt ihn: Das war über viele Jahrzehnte gängige Praxis, doch unter der letzten Regierung war es nicht mehr die Regel – und damit wurde ein grundlegender Wandel in den Usancen der österreichischen Politik vollzogen. Ein Fachdossier des Parlaments zeigt diese grundsätzliche Veränderung in der Gesetzgebung unter ÖVP und Grünen.

Initiativanträge von Abgeordneten erstmals häufiger beschlossen als Regierungsvorlagen

Gesetzesbeschlüsse, die aus Initiativen von Abgeordneten hervorgingen, überholten in der 27. Gesetzgebungsperiode (GP) demnach erstmals jene der Regierung, berichtet die Parlamentskorrespondenz. Verfasst hat das entsprechende Fachdossier der Rechts-, Legislativ- und Wissenschaftliche Dienst (RLW) der Parlamentsdirektion: Der RLW biete rechtliche, ökonomische und politikwissenschaftliche Expertise von parlamentarischem Interesse.

Bedeutet diese neue dominierende Position der Abgeordneten-Anträge, dass der Nationalrat gestärkt wurde? Das sollte das Dossier des RLW ebenfalls beleuchten. Die nähere Analyse der Entwicklungen seit 2020 zeigt laut dem Dossier, dass diese Trendumkehr hin zu selbstständigen Anträgen mit einer Verkürzung der Beratungszeit, dem Fehlen von Informationen und mangelnden Möglichkeiten der Evaluierung von Gesetzen einhergeht.

COVID-19-Pandemie ebnete den Weg für Initiativanträge als Mittel zum Ziel

Jedes beschlossene Gesetz hat seinen Anfang in einem Antrag, einer Regierungsvorlage oder einem Volksbegehren. Eingebracht werden können Anträge von Nationalratsabgeordneten, vom Bundesrat oder einem Drittel seiner Mitglieder, Regierungsvorlagen, wie der Name schon sagt, von der Bundesregierung.

Bis zur jüngsten abgeschlossenen Gesetzgebungsperiode, der 27., mit einer Regierung aus ÖVP und Grünen, gingen die Gesetzesbeschlüsse vorrangig auf Regierungsvorlagen zurück. In dieser GP dominierten allerdings die selbstständigen Anträge von Abgeordneten mit 53 Prozent – sie werden auch oft als Initiativanträge bezeichnet. Nur 38% der Beschlüsse basierten auf Regierungsvorlagen.

Die „Trendumkehr“ wurde wohl mit der COVID-19-Pandemie eingeläutet, berichtet die Parlamentskorrespondenz: Ab März 2020 war es notwendig, viele bestehende Gesetze anzupassen und gesetzliche Grundlagen für den Umgang mit der Pandemie und ihren Folgen zu schaffen – und zwar möglichst schnell. Als Mittel zur Umsetzung wurden selbstständige Anträge eingesetzt, die unmittelbar eingebracht werden konnten – also ohne Ministerialentwurf und Begutachtungsverfahren. So wurden in der Tagungsperiode 2019/2020 54% der Gesetze auf Basis von selbstständigen Anträgen beschlossen. Doch auch 2023/24, also nach der Pandemie, dominierten solche Beschlüsse (51%).

Nicht von der Regierung, aber von Regierungsparteien

Die Anträge, die in Gesetzesbeschlüssen mündeten, wurden Großteils von Abgeordneten der Regierungsparteien eingebracht. In der jüngsten Tagungsperiode – 2023/24 – kamen von den 99 erfolgreichen selbstständigen Anträgen 93 von Abgeordneten der ÖVP und der Grünen. 6 weitere von ihnen gemeinsam mit Abgeordneten anderer Klubs. Abgeordnete der SPÖ, der FPÖ und der NEOS haben rund 50 Initiativanträge eingebracht – davon war keiner erfolgreich.

38% der Beschlüsse in der 27. GP hatten ihren Ursprung in Regierungsvorlagen. Für Regierungsvorlagen sind höhere Anforderungen gesetzlich vorgesehen. So müssen etwa finanzielle, aber etwa auch wirtschafts-, umwelt- und konsumentenschutzpolitische sowie soziale Auswirkungen einer Maßnahme im Rahmen der sogenannten „Wirkungsorientierung“ geprüft werden, ebenso Auswirkungen auf die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern. In manchen Fällen genügt eine vereinfachte Abschätzung, eine WFA (wirkungsorientierte Folgenabschätzung). Außerdem sind erläuternde Bemerkungen zum Gesetzesentwurf vorgesehen, diese sind allerdings rechtlich unverbindlich.

Erforderlich könne zudem sein, die Länder in die Vorbereitung einzubeziehen und es ist üblich den Ministerialentwurf, der der Regierungsvorlage vorausgeht, öffentlich begutachten zu lassen. Eingebracht in den Nationalrat wird der Antrag schließlich durch einen einstimmigen Beschluss der Regierung.

Das Problem mit der Begutachtungsfrist

Durch die Begutachtungsphase kennen die Abgeordneten und auch die Öffentlichkeit die Grundzüge eines Entwurfs mehrere Wochen bis Monate vor den parlamentarischen Beratungen. Bei selbstständigen Anträgen ist das nicht der Fall. Da folgt kurz nach der Einbringung im Nationalrat die Beratung im Ausschuss. In der jüngsten abgeschlossenen GP kam es häufiger vor, dass ein Gesetzgebungsverfahren in einem Ministerialentwurf begonnen hat – also in einem Bundesministerium ausgearbeitet wurde – und schließlich als selbstständiger Antrag in den Nationalrat gebracht wurde. So war es in der Tagungsperiode 2023/24 bei 19 der 93 Anträge von Vertreter:innen der ÖVP und Grünen.

In den allermeisten Fällen (96%) wurde ein Entwurf in der 27. GP nur einmal im Ausschuss behandelt. Damit bleibt auch wenig Zeit für Stellungnahmen im parlamentarischen Begutachtungsverfahren. Dazu kommt, dass in dieser kurzen Zeit Gesetzesanträge sehr häufig abgeändert werden. Im Durchschnitt wurden nur knapp 40% der Anträge unverändert beschlossen.

Die „Trägerrakete“ startet

Ein anderes Werkzeug, das öfters zur Anwendung kam, ist die sogenannte Trägerrakete. Das sind Gesetzesanträge ohne relevanten Inhalt (es geht dabei etwa um die Änderung eines Satzzeichens). Sie werden erst in den Ausschuss- oder Plenarberatungen mit Inhalten gefüllt. 2023/24 waren 19 von 99 selbstständigen Anträgen solche „Trägerraketen“.

Laut dem Fachdossier seien diese Veränderungen im Nationalrat mehrmals angesprochen worden. Die Kritik lautete, dass den Abgeordneten Zeit und Informationen fehlen würden. In parlamentarischen Anfragen sei unter anderem gefragt worden, wie Ministerialbeamte die Abgeordneten der Regierungsklubs unterstützen würden. Diese Fragen sind auch Gegenstand einer laufenden Gebarungsprüfung des Rechnungshofes.

Konsequenzen der Veränderung

Gibt es keine Regierungsvorlage, fehlen auch die WFA und die Information betreffend Verwaltungskosten. Für die Abgeordneten bedeutet das, dass die Informationsgrundlage beschränkt ist. Deshalb sollen selbstständige Anträge zumindest einen Bedeckungsvorschlag enthalten, wenn sein Beschluss zu einer finanziellen Belastung des Bundes führen würde, die im Budget nicht vorgesehen ist. Fehlt dieser, gibt es allerdings keine Sanktionen, heißt es weiter.

Um solche Informationsdefizite auszugleichen, könnte der Nationalrat Expert:innenhearings in den Ausschüssen durchführen. Auch Ausschussbegutachtungen können beschlossen werden. Im parlamentarischen Alltag passiert das aber nur selten: In der jüngsten Gesetzgebungsperiode wurden vier Hearings und elf Ausschussbegutachtungen durchgeführt. Hinzu komme, dass Gesetze, für die es zuvor eine WFA gab, eine Evaluierung innerhalb von längstens fünf Jahren gibt. Der Hintergrund: Qualitätssicherung.

Schnellschüsse sind oft reparaturbedürftig

Im Fachdossier werde betont, dass sich auch die rechts- und sozialwissenschaftliche Forschung in den letzten Jahren häufiger mit Entwicklungen beschäftigt habe, die auch in der 27. Gesetzgebungsperiode für Österreich typisch geworden sei. Es werde dabei auf das Risiko hingewiesen, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Gesetzgebung sinken könne. Im internationalen Vergleich zeige sich, dass Gesetze, die in raschen Gesetzgebungsverfahren ohne Konsultationen und breite Diskussionsprozesse beschlossen worden seien, oftmals geändert werden müssten. Die Konsequenzen daraus: Fallweise hohe Anpassungskosten für Unternehmer:innen und Private und die Förderung von Korruption.

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