Forschung. Bei einer Podiumsdiskussion anlässlich des Endes der parlamentarischen Demokratie 1933 wurden die Ereignisse analysiert und Schlüsse für die Gegenwart gezogen.
Vor 92 Jahren, am 4. März 1933, führte der Streit über ein Abstimmungsergebnis bei einer Sondersitzung des Nationalrats zum Rücktritt aller drei Nationalratspräsidenten. Bundeskanzler Engelbert Dollfuß erklärte daraufhin, der Nationalrat habe sich „selbst ausgeschaltet“, und regierte mittels Notverordnungen autoritär. Wie kam es dazu und was gibt es daraus zu lernen?
Was Demokratie widerstandsfähig macht – und was sie schwächt
Man müsse sich fragen, was eine parlamentarische Demokratie verwundbar, oder was sie widerstandsfähig mache, meinte Parlamentsdirektor Harald Dossi laut Parlamentskorrespondenz. Für die „Krisenfestigkeit“ der Demokratie seien stabile demokratische Institutionen wichtig, die Regeln, die sie sich in Verfassung und Geschäftsordnung gebe. Dabei komme es aber immer auch auf die politische Kultur an, in der diese Regeln gelebt würden. Auch die zivilgesellschaftliche Partizipation sei ein wichtiger Faktor für die Stabilität der Demokratie, erklärte Dossi.
Helmut Wohnout, Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs, fasste in seiner Keynote die Ereignisse des Jahres 1933 zusammen. Er erinnerte an das politische Klima zwischen den Parteien, das sich seit 1927 zunehmend verschlechtert hatte. Das ohnehin wenig verwurzelte parlamentarische System verlor dabei in allen politischen Lagern an Rückhalt. Während die Sozialdemokratie das baldige Ende des kapitalistischen Systems herannahen gesehen habe, sei auf christlich-sozialer Seite mit vorerst noch unklaren „ständestaatlichen“ Ideen geliebäugelt worden. Auch die Verfassungsreform des Jahres 1929 habe die Situation nicht auflösen können.
Von außen und innen destabilisiert
Laut Wohnout führte eine Reihe von innen- und außenpolitischen Faktoren dazu, dass Dollfuß bis Herbst 1933 der „autoritären Versuchung“ nachgab. Eine wichtige Rolle in diesem „Wegdriften von der Demokratie“ spielte die nationalsozialistische Machtergreifung in Deutschland. Unmittelbar darauf wurden massive Versuche unternommen, Österreich mit Terror und wirtschaftlichem Druck zu destabilisieren. Das wiederum führte zu einer Reaktion Mussolinis, der an der territorialen Integrität Österreichs als „Puffer“ zum Deutschen Reich interessiert war. Für seine Unterstützung verlangte er jedoch den Umbau Österreichs zu einem autoritären Staat ohne parlamentarische Kontrolle und die Ausschaltung „der Linken“.
„Unlust am Bestehenden“
Für die Menschen der Zwischenkriegszeit, die an die politischen Mechanismen der konstitutionellen Monarchie gewohnt waren, habe die Ordnung ab 1918 nicht gut funktioniert, umriss Lothar Höbelt (ehemaliger Professor für neuere Geschichte der Universität Wien) das Stimmungsbild um 1933. Er sprach von einer deutlichen „Unlust am Bestehenden“. Dollfuß – laut Höbelt „mehr Pragmatiker als Ideologe“ – habe die Geschäftsordnungskrise als „Geschenk des Himmels“ genutzt, da ein Machtwechsel in Richtung der Sozialdemokratie für ihn nicht tragbar gewesen wäre.
Ein solcher hätte für die Christlich-Sozialen nämlich den Bolschewismus, die Zerstörung der Eigentumsordnung und das Chaos bedeutet, wie Thomas Simon (ehemaliger Professor für europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien) betonte. Wie Höbelt sah auch er die Geschäftsordnungskrise als „Panne“ an, bei der sich die Akteure nicht bewusst gewesen seien, in welche „verfassungsrechtliche Sackgasse“ sie führen würde.
Auch die SDAP habe sich in weiten Teilen aus einer marxistischen Perspektive demokratiekritisch gezeigt und in parlamentarischen Prozessen „Obstruktion betrieben“, wenn es ihr genutzt habe, meinte Höbelt. Ein Einstehen für die Demokratie an sich sei mit einem Ausdruck von Otto Bauer als „vulgärdemokratisch“ betrachtet worden.
Mehrheiten agieren lassen
Nach den „richtigen Lehren“ aus der Geschichte gefragt, sahen beide Historiker die Bereitschaft, auch wechselnde Mehrheitsverhältnisse und Regierungskonstellationen zu akzeptieren, als essenziell für das Funktionieren einer demokratischen Ordnung. Dazu gehört es laut Höbelt, Mehrheiten agieren zu lassen und auch als besonders wesentlich empfundene Fragen, nicht dem demokratischen Diskurs zu entziehen. Für Thomas Simon führt uns der Blick in die Zwischenkriegszeit vor allem die Relevanz des demokratischen Grundkonsenses bei allen maßgeblichen Parteien vor Augen.