Freizeit & Arbeitszeit. Müssen Arbeitnehmer für den Chef jederzeit erreichbar sein? In Österreich hat sich das Höchstgericht dazu geäußert, schildert WU-Expertin Susanne Auer-Mayer im Interview. Gesetzliche Klarstellungen wären trotzdem gut.
Unterschiedliche Regeln von Belgien bis Irland, von Australien bis Japan
Extrajournal.Net: Der Sommer steht bevor, und damit die Urlaubszeit. Ob man in der Freizeit für den Chef erreichbar sein muss, wird in solchen Zeiten regelmäßig zum Thema. In der Digital-Ära verschwimmen ja die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit immer mehr. Sie waren 2024 preisgekrönter Researcher der WU zum Thema Recht auf Nichterreichbarkeit. Wie entwickelt sich die Rechtslage in Europa? Geht der Trend zu gesetzlichen Regelungen zur Nichterreichbarkeit, oder ist das eher die Ausnahme?
Susanne Auer-Mayer: Inzwischen haben schon einige EU-Mitgliedstaaten entsprechende Regelungen erlassen: Neben Frankreich, das hier einer der Vorreiter war, gibt es derartige Vorgaben meines Wissens nach auch in Italien, Belgien, Spanien, Luxemburg, Griechenland, Irland, Kroatien, Portugal und Slowenien. Daneben gibt es entsprechende Bestrebungen offenbar auch in einigen weiteren Ländern, wie Chile, Australien, Kanada und Japan.
Allerdings muss man hier insofern aufpassen, als der Arbeitszeitschutz an sich in den Nicht-EU-Staaten von vornherein stark von jenem der europäischen Union abweichen kann. In der konkreten Ausgestaltung des Rechts auf Nichterreichbarkeit bestehen auch innerhalb der EU erhebliche Unterschiede. Teilweise wird Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern (AG) verboten, Arbeitnehmer:innen (AN) während ihrer Freizeit zu kontaktieren. Andere Staaten räumen AN das Recht ein, außerhalb der Arbeitszeit „offline“ zu sein, manche beschränken sich auch auf spezifische Konstellationen wie insbesondere Homeoffice oder Telearbeit. Teilweise sind auch Regelungen durch die Betriebspartner, also insb solche in einer Betriebsvereinbarung vorgesehen, wobei die Maßnahmen hier von Sensibilisierungs- und Schulungsmaßamen für die Mitarbeitenden bis zu einem verpflichtenden „Abschalten“ durch technische Maßnahmen gehen können.
Konkrete Maßnahmen gegen Erreichbarkeit
In Frankreich, wo es das Recht auf Nichterreichbarkeit bereits seit 2017 gibt, ist etwa vorgesehen, dass, sofern noch keine Vereinbarung zur Nichterreichbarkeit im Unternehmen besteht, in Verhandlungen mit AN-Vertretung eingetreten werden und der Belegschaftsvertretung entsprechende Vorschläge (eine „Charta“) zur Realisierung des Rechts auf Nichterreichbarkeit bzw auf „Abschalten“ unterbreitet werden müssen.
Auch etwa in Slowenien, das entsprechende Regelungen Ende 2023 erlassen hat, müssen AG geeignete Maßnahmen zur Umsetzung des Rechts auf Nichterreichbarkeit ergreifen, wobei diese Maßnahmen durch Kollektivverträge auf Branchenebene, durch kollektivere Regelungen auf Unternehmensebene oder durch Regelungen in den einzelnen Betrieben spezifiziert werden können.
Demgegenüber gibt es etwa in Deutschland bisher gar keine derartigen Regelungen und das Bundesarbeitsgericht hat auch ausdrücklich festgehalten, dass es insofern kein Recht der AN auf Unerreichbarkeit gibt, als sie für die Entgegennahme von Informationen zur Dienstplangestaltung erreichbar sein müssen. Dazu muss man wissen, dass die Arbeitszeiteinteilung durch die AG in Deutschland generell relativ flexibel erfolgen kann. Allerdings haben in Deutschland manche Unternehmen spezifische interne Vorgaben zur Nichterreichbarkeit eingeführt.
Österreich hat kein Gesetz, aber Gerichtsverfahren
Österreich hat bis jetzt keine explizite Regelung getroffen. Beschäftigt das Thema Nichterreichbarkeit auch in Österreich Unternehmen, Rechtswissenschaft und Gerichte?
Susanne Auer-Mayer: Ja, Österreich hat bisher keine explizite Regelung getroffen, das Thema beschäftigt Wissenschaft und Praxis aber durchaus. Der OGH hatte sich bisher, soweit ich weiß, nur einmal mit einem Fall der „Dauererreichbarkeit“ zu beschäftigen. Dort musste ein Security-Mitarbeiter auch in seiner Freizeit praktisch rund um die Uhr auf seinem Diensthandy erreichbar sein, um im Ernstfall eines Einsatzes verfügbar zu sein. Der OGH hat dies – mE zurecht – als Rufbereitschaft qualifiziert.
Darüber hinaus gibt es in Österreich nicht nur ausdrückliche gesetzlich geregelte tägliche und wöchentliche Mindestruhezeiten, sondern der OGH hat eine Begrenzung der Arbeitszeit auch aus der Fürsorgepflicht abgeleitet. Grundsätzlich ist demnach auch davon auszugehen, dass AN in ihrer Freizeit nicht für Arbeitsleistungen erreichbar sein müssen – außer es wurde Rufbereitschaft vereinbart. Dafür gibt es aber wiederum gesetzliche Schranken. Insofern haben wir mE in Österreich eigentlich schon ein Recht auf Nichterreichbarkeit.
Allerdings wird zum Teil argumentiert, dass die bloße Verpflichtung zur Erreichbarkeit per Mobiltelefon dann keine Rufbereitschaft sei, wenn damit im Bedarfsfall nur ganz geringfügige Arbeitsleistungen einhergehen. Ich halte das für nicht richtig; sieht man das aber so, ist natürlich der Schutz vor „Dauerreichbarkeit“ eingeschränkt. Insofern wären hier zumindest gesetzliche Klarstellungen sinnvoll.
Umstritten ist darüber hinaus, ob und wie sich kurze Arbeitsleistungen in der Freizeit auf die Einhaltung der Ruhezeiten auswirken. Und nicht zuletzt lässt sich natürlich trefflich darüber diskutieren, ob es ausreichend ist, AN ein Recht auf Ruhezeiten oder auch auf „Nichterreichbarkeit“ einzuräumen oder ob es hier eine stärkere Inpflichtnahme der AG zur Ergreifung von spezifischen Vorkehrungen – gar bis zu Serverabschaltungen – braucht.
Steht das Thema Nichterreichbarkeit aktuell auf der Agenda des Gesetzgebers?
Susanne Auer-Mayer: Bisher wurden meines Wissens nach keine spezifischen gesetzlichen Initiativen dazu in Österreich gesetzt. Im Regierungsprogramm findet sich zur Arbeitszeit generell nur wenig. Ich vermute, dass man hier die Entwicklungen auf Europäischer Ebene abwarten möchte (an sich waren bereits für 2024 spezifische Vorgaben zu Telearbeit und Nichterreichbarkeit angekündigt). Meinem Eindruck nach ist zudem auch zwischen den Sozialpartnern sehr umstritten, ob es spezifische Vorgaben zur Nichterreichbarkeit braucht.
Im Interview
Univ.-Prof. Dr. Susanne Auer-Mayer ist Vorständin des Instituts für Österreichisches und Europäisches Arbeitsrecht und Sozialrecht an der WU Wien.