Wien. Die Umsatzerlöse der europäischen Unternehmen wachsen um 21 Prozent; dagegen ist die Gesamtbranche wegen eines Rückgangs bei US-Firmen erstmals rückläufig, so eine aktuelle EY-Studie.
- Nach Jahren niedrigen Wachstums sind demnach die Umsätze der Medtech-Branche in den USA und Europa insgesamt gesehen 2015 sogar erstmals geschrumpft – sie sanken um 1,2 Prozent auf 337 Milliarden US-Dollar.
- Dabei fiel die Entwicklung in den USA und in Europa höchst unterschiedlich aus: Während die hiesigen Medtechs ihre Umsätze sogar um 21 Prozent auf 129 Milliarden US-Dollar deutlich steigern konnten, fiel der Umsatz der US-Konkurrenz um elf Prozent auf 209 Milliarden US-Dollar.
- Der Nettogewinn sank insgesamt um 15 Prozent auf 13,7 Milliarden US-Dollar.
Liebkind der Kapitalmärkte
Trotz der rückläufigen Zahlen stand die Branche an den Kapitalmärkten sehr gut da, stellen die EY-Studienautoren fest. Die Marktkapitalisierung der Medtech-Unternehmen stieg um 13 Prozent auf 717 Milliarden US-Dollar. Zwar hatte diese in den Vorjahren stärker zugelegt. Aber die Börsenwerte der wichtigsten Indizes weltweit entwickelten sich deutlich schwächer. Und auch die Biotech-Branche kam auf ein geringeres Wachstum von fünf Prozent.
Im laufenden Jahr deute alles auf ein noch höheres Wachstum hin: In den ersten neun Monaten stieg der Marktwert bereits um 14,7 Prozent auf 822 Milliarden US-Dollar.
Geld für Übernahmen und Start-ups
Die Attraktivität der Medtech-Unternehmen zeige sich auch bei den Übernahmen und der Bereitstellung von Venture Capital: Der M&A-Markt lief gegenüber dem Vorjahreszeitraum noch einmal zur Hochform auf. Der Gesamtwert im untersuchten Zeitraum von Juli 2015 bis Juni 2016 betrug 77,4 Milliarden US-Dollar, eine Zunahme von 28 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Start-ups erhielten 5,6 Milliarden US-Dollar und damit zehn Prozent mehr als im Vorjahr.
Weniger gut lief es für Neulinge auf dem Börsenparkett: Nach 41 IPOs von Juli 2014 bis Juni 2015 trauten sich im gleichen Zeitraum 2015/16 nur noch 15 Unternehmen neu an die Börse. Der Wert sank um 74 Prozent auf 590 Millionen US-Dollar – den niedrigsten Wert seit 2012.
Insgesamt fiel die Finanzierung der Branche durch den Kapitalmarkt oder über Schulden zwar auf 20,4 Milliarden US-Dollar und damit auf den geringsten Wert in fünf Jahren – allerdings war in den vergangenen Jahren der überwiegende Anteil der Finanzierung durch Fremdkapital abgedeckt. In diesem Jahr fiel die Fremdkapitalfinanzierung von 42 Milliarden US-Dollar im Vorjahr auf 12 Milliarden US-Dollar, so EY in seinem „Medizintechnik-Report 2016“.
Erich Lehner, zuständiger Partner für Life Sciences bei EY Österreich, kommentiert: „Die Medtech-Unternehmen schaffen es nicht, mit ihren Produkten mehr Wachstum zu generieren. Ihnen fehlen in der Breite die Innovationen, die echten Durchbruch bedeuten und Kunden vom Mehrwert ihrer Entwicklungen überzeugen. Deswegen ist die Branche mitten in einer Transformation: Während einige im Wettbewerb vor allem auf Größe und Portfoliotiefe setzen und auf dem M&A-Markt nach geeigneten Übernahmekandidaten suchen, versuchen andere, den Kunden und seine Bedürfnisse breiter abzudecken.“
Vor allem die Mischkonzerne mussten Umsatzeinbußen hinnehmen. Ihr Gesamtumsatz fiel um sechs Prozent auf 143 Milliarden US-Dollar. Die sogenannten Pure-Plays, also die Unternehmen, die sich nur auf die Medizintechnik konzentrieren, erzielten zwar ein Wachstum von zwei Prozent auf 194 Milliarden US-Dollar. Dennoch blieben auch sie damit deutlich hinter der Entwicklung der Vorjahre zurück. 2014 konnten sie noch um fünf Prozent zulegen.
„Der zurückgehende Umsatz der Mischkonzerne ist vor allem auf ihren Schrumpfkurs zurückzuführen. Viele straffen ihr Portfolio und verkaufen Bereiche, die sie nicht mehr zu ihrem Kerngeschäft zählen“, erklärt Lehner. So hat sich der deutsche Konzern Bayer etwa von seiner Diabetes-Sparte getrennt und der amerikanische Konzern Johnson & Johnson von seiner Medizingerätetochter Cordis. Bei den Pure-Plays sei die Entwicklung genau entgegengesetzt gewesen, so Erich Lehner: „Sie profitierten 2015 vom Übernahmefieber 2014, als viele auf dem M&A-Markt zugriffen. Die zugekauften Unternehmen und Bereiche trugen 2015 zusätzlich zum Umsatz bei.“
Übernahmen weniger dynamisch
Der M&A-Markt bleibt beim Gesamtwert zwar hinter dem Rekordjahr 2013/14 zurück, in das die knapp 50 Milliarden US-Dollar teure Megaübernahme von Covidien durch Medtronic fiel. Allerdings waren die Investments breiter aufgestellt. So entfielen auf die 77,4 Milliarden US-Dollar alleine 47,2 Milliarden US-Dollar auf kleinere Deals mit einem Wert von unter zehn Milliarden Euro. Die Zahl der Deals stieg im Vergleich zum Vorjahr daher sogar um 37 Prozent auf 213 und erreichte einen neuen Rekordwert.
Zudem setzten Investoren auf junge Medtech-Unternehmen und statteten Start-ups mit so viel Venture Capital aus wie noch nie. Vor allem in der ganz frühen Early-Stage-Phase konnten Start-ups viel Geld einsammeln: Mit 1,8 Milliarden US-Dollar erhielten sie den höchsten Gesamtbetrag seit 2007. „Es macht Mut, dass Investoren zunehmend die jungen Start-ups entdecken und fördern“, findet Lehner. „Lange Zeit standen vor allem kurzfristige Erfolge im Fokus, sodass sich Investoren auf große Medtech-Unternehmen konzentrierten, die Dividenden-Ausschüttungen versprachen. Diese Strategie kann für die Branche jedoch gefährlich werden, wenn dadurch Gelder für Forschung und Entwicklung fehlen und echte Innovationen verhindert werden. Das Vertrauen, das die Geldgeber jetzt in die Jungunternehmen setzen, zeigt, dass sie auch auf Innovationen bauen.“
Auf Innovationen hoffen die Unternehmen vor allem aus den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, die 15 Milliarden US-Dollar und damit sechs Prozent mehr als im Vorjahr erhielten. Damit sind die Mittel in dem Bereich seit 2009 jedes Jahr gestiegen.
Für Erich Lehner wird der Zwang zur Veränderung und zur Innovation für die Medtech-Unternehmen sogar noch stärker: „Das Tempo der Veränderungen nimmt zu. Megatrends wie Big Data oder digitale und mobile Technologien eröffnen auch den Medtech-Unternehmen neue Wachstumschancen. Intelligente Medtech-Geräte können sich über das Internet verbinden und wichtige Daten austauschen. Mittels Big-Data-Analyse lassen sich etwa für Diabetes-Patienten bessere und effektivere Behandlungen erstellen.“
Ein Beispiel für diesen neuen Trend sei die Partnerschaft zwischen Johnson & Johnson und der Google-Mutter Alphabet Inc, die mit Verb Surgical Operationen durch Big Data und intelligente Roboter verbessern wollen. Ein anderes sei ein internetfähiger Inhalator für Lungenpatienten, den Boehringer Ingelheim und Qualcomm gemeinsam auf den Weg bringen. Er soll die intelligente Behandlung der Patienten sicherstellen, egal, wo sie sich gerade aufhalten.
Branche erholt sich im laufenden Jahr
Erich Lehner beobachtet laut den Angaben eine deutliche Erholung der Branche im laufenden Jahr. Im ersten Halbjahr konnten die Unternehmen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum insgesamt die Erlöse um 12,9 Prozent auf 183,4 Milliarden US-Dollar steigern.
„Konsolidierung und Portfolioanpassung waren die Prioritäten in den vergangenen Jahren“, so Lehner. „In diesem Jahr scheint die Strategie bei einigen Unternehmen bereits aufzugehen. Dennoch müssen sie aufpassen: Wenn sie nicht die dringend benötigten Innovationen auf den Markt bringen, kann es mit dem Wachstum schnell wieder vorbei sein.“
Link: EY