Klimaziele & Politik. Ein neues CO2-Emissionsmodell der WU Wien zeigt, dass einige Staaten ihre Klima-Bemühungen deutlich übertreiben. Drastische Schritte seien nötig.
Mit dem Klimaabkommen von Paris haben sich die Staaten dieser Erde verpflichtet, den globalen Temperaturanstieg möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen. Dafür muss die Menschheit bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts ihre Treibhausgasemissionen auf null reduzieren. Um ihren Fortschritt im Blick zu behalten, berichten die Staaten alle zwei Jahre darüber, wie viel CO2 und andere Treibhausgase sie derzeit ausstoßen und welche Maßnahmen sie setzen, um dem Ziel Net-Zero näherzukommen.
So weit die Theorie – doch in der Praxis steckt die Berechnung von Emissionen voller Tücken, erklärt Jesús Crespo Cuaresma, Professor am WU Department für Volkswirtschaft, in einer Aussendung: „Für diese Schätzungen sind je nach Land unterschiedliche Institutionen zuständig, die auch unterschiedliche Modelle verwenden. Darum fanden wir es wichtig, ein umfassendes Modell für vergleichbare Projektionen sektoraler Emissionen zu entwickeln, mit dem man unter anderem auch die gemeldeten Zahlen vergleichen kann.“
Das neue Modell
Gemeinsam mit seinem Kollegen Lukas Vashold hat der WU Experte so ein Modell entwickelt und es im Fachjournal Communications Earth & Environment präsentiert („A unified framework for projecting sectoral greenhouse gas emissions“). Gefüttert mit ökonomischen und demografischen Kennzahlen, spuckt das Modell der Forschenden laut den Angaben realistische Projektionen für die Treibhausgasemissionen von 173 Staaten bis zum Jahr 2050 aus – getrennt nach den Sektoren Energie, Industrie und Transport. Gemeinsam mit dem World Data Lab haben die WU-Forscher außerdem die „World Emissions Clock“ entwickelt: Auf worldemissions.io können die Daten von den Usern nach nach Land und Sektor verglichen und zusätzlichen Szenarien mit anderen Annahmen gegenübergestellt werden.
Solche Vergleiche sind es auch, die in der aktuellen WU-Aussendung herausgehoben werden: Die Projektionen des eigenen Modells ergeben Diskrepanzen mit den gemeldeten Emissionszielen.
Derzeitige Bemühungen reichen nicht
Für ihre Berechnungen sind die Ökonomen von einem „Middle of the Road“-Szenario ausgegangen, bei dem sich die Wirtschaft etwa so entwickelt wie bisher und keine radikalen technologischen oder politischen Umwälzungen passieren. Doch ohne solche drastischen Maßnahmen ist laut diesem Modell bis 2050 ein deutlicher Anstieg der weltweiten Treibhausgasemissionen zu erwarten: „Die derzeitigen Bemühungen reichen bei weitem nicht, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. In der Tat wäre das sogenannte globale Carbon Budget für dieses Ziel bereits im Jahr 2030 erschöpft“, sagt Lukas Vashold.
E-Autos müssen mit grünem Strom betrieben werden
In Entwicklungs- und Schwellenländern werden die Emissionen, angetrieben von starkem Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum, weiter ansteigen. Einige Industrieländer wiederum können ihre Emissionen reduzieren – hier vorrangig im Industrie- und Energiesektor. Im Transportsektor hingegen wird der Ausstoß von CO2 auch in entwickelten Volkswirtschaften weiter ansteigen: „Eine stärkere Elektrifizierung des Transportsektors ist ein wichtiger Baustein für den Weg zu Net-Zero“, erklärt Jesús Crespo Cuaresma. „Aber es ist wichtig, dass der Strom, mit dem wir die E-Autos tanken, klimaneutraler produziert wird als bisher.“
Im Spitzenfeld der Treibhausgas-Emittenten bewegt sich bis 2050 relativ wenig, sollte es nicht zu einem Bruch mit vergangenen Trends kommen: Wie schon heute wird China – und hier vor allem der Energie-Sektor – mit Abstand die meisten Treibhausgase verursachen. Allerdings wird Indien deutlich aufholen, vor allem in den Sektoren Energie und Industrie, und im Jahr 2033 die USA als zweitgrößten Emittenten überholen.
Dem oft wiederholten Argument, dass Bemühungen in einem Land wie Österreich angesichts dieser Emissions-Übermacht nutzlos seien, kann Lukas Vashold trotzdem wenig abgewinnen: „Wenn Österreich seine Emissionen auf null bringt, würde das global gesehen natürlich nur einen marginalen Unterschied machen. Aber wir können ein Vorbild sein, wenn es darum geht, Innovationen zu entwickeln, umzusetzen und ihre Verbreitung in anderen Ländern zu fördern. Das kann Effekte haben, die global gesehen bedeutend sind.“
Überschätzte Einsparungen
Große Diskrepanzen ergeben sich, wenn man die Daten des Modells mit den Emissionszahlen vergleicht, die einige Staaten bei den UN-Klimakonferenzen vermelden: Schwellenländer prognostizieren ihre Emissionen für ein „Business as usual“-Szenario zumeist selbst und formulieren ihre geplanten Emissionseinsparungen in Relation dazu. Vergleicht man diese Zahlen mit dem Modell der Ökonomen, sind diese Prognosen für einige Länder allerdings stark übertrieben, so die WU.
Bei manchen –, wie etwa Indonesien, dem Iran oder der Türkei – übersteigen die prognostizierten Emissionen die Zahlen des Modells sogar um mehr als 50 Prozent: „Diese Staaten überschätzen wahrscheinlich ihre Emissionsprognosen, damit ihre geplanten Maßnahmen wirkungsvoller aussehen“, erklärt Jesús Crespo Cuaresma. „Das ist genau das, was man von ökonomischer Seite erwarten würde: Es gibt Anreize, das zu tun, also passiert es.“
Eine neue Instanz gefordert
Um diese ökonomischen Anreize auszuschalten und die Bemühungen für Klimaneutralität zu verstärken, kann sich Jesús Crespo Cuaresma die Einrichtung einer wissenschaftlichen Watchdog-Organisation vorstellen: „Unser Modell könnte Teil dieser Bemühungen sein. Doch unsere Rolle endet hier. Jetzt geht es darum, dass diese evidenzbasierten Ergebnisse von nationalen Entscheidungsträgern und supranationalen Organisationen an Bord genommen werden, um die bisherigen Prozesse kritisch zu beleuchten.“