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18,9 % mehr Anfragen bei Schuldenberatern: „Das dicke Ende kommt noch“

Clemens Mitterlehner ©asb / Christoph Kempter

Interview. Clemens Mitterlehner, Geschäftsführer der ASB Schuldenberatungen, über Österreicher in Finanzproblemen, Teuerung & Pleiten, „Social Washing“ beim Inkasso und mehr.

Extrajournal.Net: Wie wirken sich gestiegene Zinsen und verschlechterte wirtschaftliche Lage aus, haben mehr Österreicherinnen und Österreicher jetzt Finanzprobleme? 2022 gab es ja bereits um 10 Prozent mehr Erstkontakte bei den Schuldnerberatungsstellen. Hat sich das beschleunigt?

Clemens Mitterlehner: Wir sehen tatsächlich im ersten Halbjahr 2023 einen Anstieg bei den Erstkontakten von 18,9 Prozent. Bei den tatsächlich durchgeführten Beratungen – nicht jede erste Anfrage führt ja zu einer Beratung – beträgt der Anstieg immerhin noch 14 Prozent gegenüber dem ersten Halbjahr 2022. Das sind sehr hohe Werte. Wir sehen auch, dass Personen, die wir in der Vergangenheit bereits betreut haben, in höherer Zahl wiederkommen, nämlich um 10 Prozent mehr. Das Risiko für Überschuldung und Armut steigt also weiter.

Handelt es sich bei diesen Zahlen um einen Rekord, oder sind sie vergleichbar mit früheren schwierigen Zeiten wie z.B. der Finanzkrise 2008?

Clemens Mitterlehner: Sie sind vergleichbar. Wir beobachten solche Anstiege immer wieder, nach der Finanzkrise, Hochwasser-Katastrophen und Corona. Ein Beobachtung ist stets, dass Krisen immer mit Verzögerung bei uns in der Schuldnerberatung aufschlagen. Die betroffenen Menschen reduzieren zunächst ihre Ausgaben, haben vielleicht Reserven wie einen Bausparvertrag, die sie auflösen können. Aber irgendwann sind die eigenen Lösungsstrategien dann zu Ende – dann kommen sie, mit Verzögerung, zu uns. Derzeit ist Corona ein sehr häufig in unseren Beratungen angeführter Grund für Finanzprobleme – und das, obwohl die Pandemie selbst überwunden ist.

Die Trends bei den Insolvenzen

Das bedeutet, dass die aktuell hohe Inflation und die gestiegenen Zinsen sich noch nicht in den höheren Anfragen widerspiegeln?

Clemens Mitterlehner: Bis jetzt noch nicht in größerem Umfang. Ich befürchte tatsächlich, dass wir erst am Anfang stehen, das war noch nicht das Ende der Fahnenstange.

Die Zahl der Privatinsolvenzen ist in Österreich bis jetzt noch nicht stark gestiegen. Wird sich das ändern?

Clemens Mitterlehner: Der Anstieg lag im ersten Halbjahr immerhin schon bei 7,3 Prozent, das ist kein geringer Zuwachs. Wir erwarten im Gesamtjahr 2023 an die 9.000 Privatinsolvenzverfahren und 2024 dann noch mehr. Dazu muss man sagen, es hat bis jetzt erst in einem einzigen Jahr mehr als 10.000 Privatinsolvenzen gegeben. Das war ein Sondereffekt, als die bis dahin vorgeschriebene Mindestquote von 10 Prozent, die der Schuldner erfüllen musste, abgeschafft wurde. Nach dieser Novelle im Jahr 2017 nutzten viele die Möglichkeit, endlich ihre Schulden regeln zu können.

Gibt es aus Ihrer Sicht Änderungsbedarf beim Insolvenzrecht, um auf diese Entwicklung zu reagieren?

Clemens Mitterlehner: In der sogenannten „Corona-Zeit“ war eine Art „Konkursloch“ zu verzeichnen: Der Staat hat mit Kreditstundungen geholfen, bei Selbständigen haben die Sozialversicherungsträger keine Insolvenzanträge gestellt. Nun ist das vorbei, die Zahl der Unternehmenspleiten steigt und wir beobachten auch bei den Privatinsolvenzen einen Nachholeffekt. Aber aus Sicht der Schuldnerberatungen ist ein Anstieg der Privatinsolvenzen nicht unbedingt nur etwas Negatives. Denn eine Privatinsolvenz bedeutet ja immer, das Betroffene ihre Schulden regeln, dass also ein wirtschaftlicher Neuanfang eintreten kann. Das ist besser als in der Schuldenfalle zu verharren.

Ein Problem ist, dass wir nicht wissen, wie groß der Pool ist, aus dem diese Insolvenzen kommen, also wie groß die Anzahl der Menschen ist, die de facto überschuldet sind. Wir kennen nur die Anzahl jener, die tatsächlich ein Insolvenzverfahren durchführen. Daher arbeiten wir derzeit gemeinsam mit Sozialministerium und Justizministerium daran, diese Zahlen zu erheben.

„Geringe Höhe des Existenzminimums ist Problem“

Grundsätzlich ist das österreichische Privatinsolvenzverfahren seit vielen Jahren bewährt, die Gerichte und die anderen involvierten Parteien haben Erfahrung damit, es funktioniert gut. Das Problem, das wir sehen, ist die geringe Höhe des Existenzminimums, das Schuldner:innen während des Verfahrens bleibt. Es ist an den ASVG-Richtsatz gekoppelt und liegt derzeit bei 1.110 Euro pro Monat für Einzelpersonen. Damit müssen alle Kosten des Lebens bezahlt werden, von der Miete über Essen und Energie bis zur Kommunikation, also fast unmöglich. Es gab heuer 20 Euro Sonder-Inflationsausgleich – das ist nett, aber viel zu wenig. Wir fordern, dass es auf die Höhe der Schwelle der Armutsgefährdung erhöht wird, das sind derzeit 1.392 Euro. Es wäre also eine Erhöhung um rund 200 Euro.

Die Vergaberegeln für Immobilenkredite sind zuletzt verschärft worden. Manche fordern, sie wieder zu lockern, damit mehr Kreditnachfrage herrscht. Wie sehen Sie das?

Clemens Mitterlehner: Die Verschärfungen wurden aus einem bestimmten Problembewusstsein heraus vorgenommen. Für manche Haushalte stellt es eben tatsächlich ein Risiko dar, in zu großer Höhe Kredite für eine Immobilie aufzunehmen. Diese will man schützen, wir befürworten das sehr. Auch die Gläubiger profitieren ja davon, wenn sie weniger Kreditausfälle haben. Wenn manche jetzt für eine Lockerung plädieren, dann ist das so als würden sie sagen: Wir lockern die Umweltstandards, da wir sie nicht einhalten können. Das löst das zugrundeliegende Problem nicht.

Die Banken wollen auf Mahnspesen verzichten, um den Kreditnehmer:inen die Last zu erleichtern, aber solche Gebühren fallen ja erst an, wenn gemahnt wird, also wenn eine Situation schon eskaliert ist. Den meisten Kreditnehmer:inen helfen sie daher nicht. Außerdem sind diese Gebühren im Vergleich zu den Kreditraten gering. Da müsste also mehr geschehen. Allerdings sind Immobilienkredite nicht das Hauptthema in der Schuldenberatung, denn wo eine Immobilie vorhanden ist, sollte keine Überschuldung bestehen, weil in der Regel mit der Immobilie ja ein entsprechender Gegenwert da ist.

Inkasso-Unternehmen wie der KSV1870 haben sich in letzter Zeit verstärkt Kundenfreundlichkeit auf die Fahnen geschrieben bzw. sogar neue „nachhaltige“ Inkasso-Produkte gestartet. Kann dies beitragen, die Situation zu verbessern?

Clemens Mitterlehner: Das könnte man aus meiner Sicht analog zum Greenwashing als „Social Washing“ bezeichnen. Die Inkassobüros geben sich damit einen sozialen Anstrich, es geht aber dennoch um zahlungsunfähige Kunden: Diese sollen zu einer Zahlung bewegt werden, wenn auf dem herkömmlichen Weg nichts mehr geht. Aus Sicht der Schuldnerberatungen ist das nicht nachhaltig, denn es geht nur um einen einzelnen Gläubiger, es müsste aber die Gesamtsituation der Schuldner:innen betrachtet und verbessert werden, man müsste also alle Gläubiger in die Regelung miteinbeziehen.

In Österreich ist es sogar ein Straftatbestand, wenn in einer Überschuldungs-Situation einzelne Gläubiger bevorzugt werden („Gläubigerbegünstigung“ § 158 StGB). Bei überschuldeten Personen, die dann doch noch eine einzelne Forderung begleichen, könnte das der Fall sein. Ein No-Go ist auch, dass man dafür dem Inkassobüro, das gleichzeitig mit Bonitätsrankings handelt, vollen Einblick auf das eigene Konto geben muss.

Viele Unternehmen streben heute ein ESG-Rating an. Da passt es ja ins Konzept, wenn diese Unternehmen für ihre Außenstände auch ein nachhaltiges Inkassobüro beauftragen.

Clemens Mitterlehner: Ich verstehe nur nicht, was daran nachhaltig sein soll. Nachhaltig bedeutet aus Sicht der Schuldenberatungen, alle Schulden der Betroffenen in eine Lösung einzubeziehen und nicht eine einzelne Forderung einzutreiben. Wenn ein Unternehmen sein Forderungsmanagement nachhaltig betreiben will, dann sollte es darauf abstellen, dass solche Lösungen gefunden werden. Dafür gibt es in ganz Österreich die staatlich anerkannten Schuldnerberatungen. Der KSV1870 bindet bei seinem Instrument lediglich einen bestimmten Verein ein, der noch dazu nur in Wien tätig ist. Das erachten wir als nicht besonders zielführend aus einer Nachhaltigkeitsperspektive.

Im Interview

Clemens Mitterlehner ist Geschäftsführer der ASB Schuldnerberatungen GmbH, der Dachorganisation der staatlich anerkannten Schuldenberatungen in Österreich.

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